Nach wie vor kommen in der deutschen Versicherungsbranche viele technisch veraltete Systeme zum Einsatz – gerade auch im Kontext der Verwaltungs- beziehungsweise Kernsysteme. Häufig ist in diesem Zusammenhang von sogenannten Legacy-Systemen die Rede, womit sowohl die jeweiligen Software-Systeme als auch die zugrunde liegende Hardware gemeint ist. Im Regelfall sind diese Systeme tief in die jeweiligen Anwendungslandschaften integriert, sodass eine umfassende Modernisierung nur mittel- oder langfristig möglich ist.
Auch wenn keine trennscharfe Definition für den Begriff des Legacy-Systems existiert, so gibt es doch klare Indizien, zu welchem Zeitpunkt ein bestehendes System als veraltet anzusehen ist:
Fachliche Anforderungen lassen sich nicht mehr oder nicht schnell genug realisieren.
Die Umsetzung regulatorischer Anforderungen und Security ist mit unverhältnismäßig hohen Aufwänden verbunden.
Lizenz- und Betriebskosten sind hoch.
Es liegt ein Mangel an Skills bzw. Fachkräften für die Weiterentwicklung und den Betrieb vor.
Mittlerweile haben fast alle Versicherungsunternehmen punktuelle Erneuerungsprogramme aufgesetzt, meistens sind diese jedoch nicht in eine ganzheitliche Exit-Planung mitsamt einer entsprechenden Zeitplanung und Kostenbetrachtung eingebettet.
Legacy-Systeme werden üblicherweise schleichend zur Altlast: Es gibt natürlich nicht den Zeitpunkt, ab dem ein System als veraltet gilt. Genau diesem Umstand ist es aber geschuldet, dass viele Unternehmen eine Modernisierung oder Ablösung immer wieder aufschieben, obwohl bereits unverhältnismäßig hohe Kosten entstehen. Kostentreiber sind hierbei einerseits die vergleichsweisen großen Aufwände für Entwicklung und Betrieb, andererseits aber auch die mit den erforderlichen Skills verbundenen sehr hohen Personalkosten. Das gilt insbesondere dann, wenn Mitarbeiter in den Ruhestand gehen und neue gleichwertige Fachkräfte auf dem Markt gesucht werden müssen. Mittlerweile tobt hier ein echter „War for talents“, da es derzeit nur noch eine sehr begrenzte Anzahl von Legacy-Experten gibt.
Hinzu kommt, dass punktuelle Modernisierungsmaßnahmen für Legacy-Systeme durch zwischenzeitliche Anpassungen von Lizenzverträgen nur wenig oder sogar gar keinen Einfluss auf die Kostensituation haben. Wird beispielsweise die CPU Consumption auf einem Mainframe reduziert, senkt dies nicht zwingend die Lizenzkosten.
Wie könnte nun ein belastbarer Business Case für potenzielle Modernisierungsszenarien aussehen? Im ersten Schritt ist eine objektive Berechnung des Base Cases, also der aktuellen Kostensituation, elementar. Neben den eigentlichen Infrastruktur- und Lizenzkosten müssen dabei die Personalkosten für Weiterentwicklung, Wartung und Betrieb der Anwendungslandschaft möglichst genau und objektiv erfasst werden. Darüber hinaus ist auch die Ermittlung der Kosten für den fachlichen Betrieb („Business Operations“) sinnvoll. Altanwendungen verfügen üblicherweise über wenig bis keine Prozessautomatisierungen. Somit müssen Endanwender viele Prozesse manuell umsetzen – was wiederum zu zusätzlichem Aufwand führt. Auf Grundlage des Base Cases lässt sich dann detailliert analysieren, welche Modernisierungsmaßnahmen in der individuellen Situation die stärkste Hebelwirkung zur Kostensenkung haben.
Um die Antwort vorwegzunehmen: Beides! Modernisierung ist der Weg, der Exit das Ziel. Grundsätzlich gibt es folgende Modernisierungsszenarien, die sich in Vorgehen und Zeitrahmen zum Teil deutlich unterscheiden :
Die Auswahl der passenden Modernisierungsvariante hängt von den Rahmenbedingungen der jeweiligen Anwendungslandschaften ab. Folgende Fragestellungen spielen dabei eine wichtige Rolle:
Dient die Anwendung eher für Hintergrundaufgaben oder zur Kundeninteraktion?
Ist hinreichendes Know-How über die Altanwendungen im Unternehmen vorhanden?
Welche Technologien kommen zum Einsatz? Wie erfolgt die Job-Steuerung?
Welche Anforderungen sind hinsichtlich Latenzzeiten einzuhalten?
Ist ein Zugriff auf spezielle Funktionalitäten oder Daten mit vertretbarem Aufwand möglich?
Lässt sich Fachlogik aus den Altanwendungen extrahieren?
Welche Anforderungen an Datenschutz und -sicherheit sind zu erfüllen? Werden personenbezogene Daten verarbeitet?
Lassen sich die fachlichen Anforderungen auch durch Standard-Software erfüllen?
Egal, für welche Möglichkeit sich Versicherungsunternehmen entscheiden: Modernisierungsvorhaben müssen auf eine möglichst schnelle und nachhaltige Kostenreduzierung ausgerichtet sein. Deshalb ist es besonders wichtig, direkt zu Beginn des Prozesses die Kostenentwicklung in einer ganzheitlichen Betrachtung sorgfältig zu planen und fortlaufend zu verifizieren.
Grundsätzlich können Modernisierungsvorhaben sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. Um die beabsichtigten Einspareffekte auch tatsächlich erzielen zu können, müssen sämtliche Maßnahmen und Rahmenbedingungen innerhalb der Planung ganzheitlich betrachtet werden. Besonders wichtig ist es, frühzeitig ein Zielbild sowie die damit verbundene Roadmap und Kostenentwicklung festzulegen. Zu berücksichtigen sind hierbei fachliche und technische Aspekte. Dazu zählen insbesondere die Definition der neuen Zielsysteme beziehungsweise Standard-Software Plattformen, eine frühe Festlegung der Migrations- und Integrationsstrategie sowie eine anwendungsübergreifende Cloud Roadmap. Außerdem ist es essenziell, organisatorische Aspekte miteinzubeziehen und die Teamzusammenstellung auszubalancieren. Das beschleunigt die Bereitstellung der neuen Systeme und stellt gleichzeitig den Betrieb und die Wartung der Altsysteme sicher. Zudem zeigt die Erfahrung, das frühzeitige positive Effekte für den Fachbereich die Akzeptanz eines Modernisierungsvorhabens nachhaltig fördern.
Auf der Grundlage des Base Case können Versicherungsunternehmen verschiedene Modernisierungsszenarien im Hinblick auf die jeweilige Kostenentwicklung durchspielen. Typische Maßnahmenpakete konzentrieren sich unter anderem auf die Optimierung beziehungsweise Verschlankung von Anwendungen und Infrastruktur, um damit die Kosten für Wartung und Betrieb der Altanwendung sowie Business Operations kurzfristig – aber auch mittelfristig – wirksam senken zu können. Gerade eine frühzeitige Kostensenkung („Savings first“), kann im Idealfall zu Self-Funding Effekten führen: Das Modernisierungsvorhaben finanziert sich zumindest teilweise selbst. Bei einer externen Auslagerung von Kernsystemen können zudem Price-per-Policy Modelle sehr flexible und transparente Alternativen zu klassischen Lizenzmodellen sein. Ein weiterer, wichtiger Hebel zur Senkung von Betriebskosten liegt in der Einbeziehung von globalen Liefermodellen.
Viele Versicherungsunternehmen haben sich mittlerweile auch für globale Liefermodelle geöffnet, wobei die Präferenz eindeutig auf Nearshore-Standorten liegt – häufig aufgrund möglicher Sprachbarrieren und datenschutzrechtlicher Bedenken. In den meisten Fällen sind diese Vorberhalte jedoch unbegründet, da auch Offshore-Liefermodelle in der Regel aus BaFin- und EU-Sicht compliant sind. So sieht die EU beispielsweise Indien explizit als sicheres Land an, das unter Berücksichtigung von Standard-Datenschutzklauseln der EU („SCCs“) Daten aus der EU verarbeiten darf. Häufig sind die Sicherheitsmaßnahmen in Offshore-Standorten wesentlich strenger als im Nearshore-Bereich. Darüber hinaus sind durch reine Nearshore-Liefermodelle mittlerweile kaum noch Kostenvorteile zu erzielen - die Personalkosten an Nearshore-Standorten bewegen sich mittlerweile auf einem fast so hohen Niveau wie in Deutschland. Demgegenüber bieten Offshore-Modelle nach wie vor sehr große Kostenvorteile, da sich die Personalkosten auf einem wesentlich niedrigeren Niveau bewegen.
Nicht zuletzt haben sich im Hinblick auf eine vollständig deutschsprachige Kommunikation mittlerweile Brückenkopfmodelle etabliert, die neben organisatorischen und technischen Aspekten auch die zugehörige Versicherungsexpertise abdecken. Diese ist an Offshore-Standorten im Vergleich zu Nearshore meistens sogar stärker ausgeprägt.
Bei einem weltweit agierenden Versicherer mit Sitz in Deutschland konnte durch ein entsprechendes Modernisierungsprogramm ein Großteil der Mainframe Umgebung erfolgreich stillgelegt werden. Ein wesentlicher Teil des Programms war dabei das Replatforming eines mainframe-basierten Kernsystems mit ca. 15 Millionen Codezeilen, wobei nur minimale Codeanpassungen (ca. 1%) erforderlich waren. Insgesamt wurden 37 Millionen Kundenverträge migriert sowie eine neue Plattform für mehr als 6000 Anwender bereitgestellt. In Kombination mit zusätzlichen Modernisierungsmaßnahmen für weitere Umsysteme konnten durch die Dekommissionierung von Mainframe Hardware und Software-Lizenzen nachhaltige Einsparungseffekte erzielt werden.
Die Modernisierung von Legacy-Systemen ist eine komplexe und strategisch wichtige Aufgabe, die jedes Versicherungsunternehmen als kontinuierlichen Optimierungsprozess mit der notwendigen Aufmerksamkeit planen und umsetzen sollte. Die Vorteile: Es werden nicht nur laufende Kosten gesenkt, sondern die gesamte IT zukunftssicher aufgestellt. Damit lassen sich neue Anforderungen an die IT flexibler und schneller umsetzen, seien sie fachlicher, technischer oder regulatorischer Natur. Dies kann jedoch nur dann gelingen, wenn das Modernisierungsvorhaben unmittelbar in die Projektlandschaft integriert wird, mit festem Blick auf die Kostenentwicklung sowie die Personalsituation. Mögliche Engpässe können externe Dienstleister ausgleichen – quantitativ, aber vor allem auch qualitativ.